Biomechanik

Bei der Betrachtung der Biomechanik geht es mir weniger um die genaue Herleitung der mechaninschen und biologischen Prinzipien, sondern mehr um die Konsequenzen für die Akrobatik…


Mechanik:

Akrobaten haben es im wesentlichen mit 3 Energien zu tun. Der potentiellen, der kinetischen und der Rotationsenergie. Diese Energien haben als gemeinsame Größen: die Masse und den Kraftvektor.

Die Masse ist für einen Akrobaten eine sehr persönliche gegebene Größe, die auch mit seiner verfügbaren Kraft (= m * a) einhergeht. Sie bestimmt maßgeblich, ob eine Person Flyer oder Base sein sollte. Darüber hinaus ist an der Masse einer Person kurzfristig nicht viel zu ändern und langfristig meist auch nicht sinnvoll… Gewichtsreduktion und Muskelaufbau sind zueinander kontraproduktiv.

Der Kraftvektor ist nur hinsichtlich der potentiellen Energie (= m * g* h) gerade und die Beschleunigung linear, da er immer zum Erdmittelpunkt zeigt und die Masse der Erde konstant ist.

Die kinetische Energie (= ½ * m * v ²) ist in der Betrachtung dagegen schon schwieriger, da weder die Richtung noch der Kraftverlauf linear sind. Üblicherweise werden zur Betrachtung der kinetischen Energie der Anfangs- und Endpunkt der Masse betrachtet und die Summe der Kraftvektoren (= die Kraftlinie) mit einem linearen Pfeil zwischen diesen Punkten gekennzeichnet. Das System ist damit „freigemacht“.

Für die Betrachtung eines geschlossenen Systems von aussen ist dies sicherlich eine sinnvolle Methode. Um jedoch einen Roboter mit den Funktionen eines Base auszustatten ist dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt, da notwendige Korrekturen vernachlässigt werden. Ohne diese Korrekturen des Base in Echtzeit wird der Flyer einfach herunterfallen. Der Roboter muss hier eher wie ein PID-Regler mit verschiedenen Eingangs- und Ausgangsgrößen und einer Regelschleife agieren. Kein Base ist in der Lage, den Flyer absolut linear mit konstantem Kraftvektor zu beschleunigen. Zudem verändert der Flyer instinktiv seine Form und erzeugt dadurch eine Rotation, schließlich will er nicht herunterfallen. Die daraus resultierende Scherkraft, die schräg zur Kraftlinie verläuft, erfordert eine zeitnahe Korrektur des Base.

Solange der Base den Flyer beschleunigt bzw. entschleunigt, ist eine Rotation nicht hilfreich. Der Flyer sollte deshalb in diesen Phasen möglichst gestreckt sein. Sobald sich der Flyer dem oberen Höhepunkt seiner ballistischen Kurve nähert, ist die kinetische Energie = potentielle Energie. Der Flyer ist in der Hochentlastung, in der er für den Base schwerelos erscheint. In diesem Moment ist die Balance sehr einfach, ähnlich einem Luftballon. Leider hält dieser Moment nur sehr kurz an. Der Base bringt also noch davor die gewollte Rotation durch bewussten Einsatz von Scherkräften ein.

Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, an dem die Rotationsenergie (= m * r ²) wichtig wird. Sie steigt exponentiell mit dem Radius des Massenpunkts zur Rotationsachse an. Wenn also der vom Base balancierte Flyer rotiert, erzeugt er damit überproportionale Scherkräfte. (Die Auswirkung auf den Base ist am Beispiel des Wasserspringers vom 10m-Turm sehr schön zu erkennen. Je mehr Rotation vor dem Eintauchen ins Wasser noch vorhanden ist, desto mehr Wasser spritzt auf.) Falls also die Rotation das Ziel ist, sollte diese möglichst wenig kinetische Energie vom Flyer enthalten, da diese nur unerwünschte Scherkräfte erzeugt. Das bedeutet für den Flyer, dass er die vom Base initiierte Rotation während der Hochentlastung beenden muss. Für eine schnelle Rotation ist eine kompakte Position hilfreich. Der Flyer streckt sich wieder, um die Rotation zu beenden.


Biomechanik:

Die Biologie liefert für Akrobaten notwendige Erkenntnisse über Gelenke, Muskeln und Funktionsketten. Wie stark können Gelenke und Muskeln belastet werden? Welche Muskeln müssen aufgewärmt, gedehnt oder aufgebaut werden? Wie können Gelenkverschleiß und ungünstige Belastungen vermieden werden?

Funktionsketten schließen nicht nur die notwendigen Muskeln und Gelenke ein, sondern auch automatisierte Bewegungsabläufe, die Fokussierung und das Balancegefühl. Der Regelkreis des Menschen wird durch viele Wiederholungen automatisiert, sodass er Korrekturen nur noch instinktiv umsetzt und nicht mehr darüber nachdenken muss, was viel zu lange dauern würde. Streugedanken stören diesen Regelkreis und führen zu Fehlern. Letztendlich muss sich jeder Akrobat auf sein Gefühl und seine Physis verlassen.

Ob ein Muskel eine Last halten bzw. heben kann, hängt vom Muskelkraftmoment und vom Lastmoment ab. Gelenke sind mehrdimensional beweglich und maßgeblich für die Effizienz und Ästhetik der Bewegung verantwortlich…

Quelle:
Grundlagen der Bewegungslehre und Biomechanik
Prof. Dr. K. Wiemann / Dr. T. Jöllenbeck
6. korrigierte und erweiterte Auflage
Bergische Universität Wuppertal, Wintersemester 1998/99

Hier wird verglichen, ab welchem Winkel (z.B. Oberarm zu Unterarm) der Muskel (z.B. Bizeps) ein Gewicht nicht mehr tragen kann. Kurz gesagt, je offener der Winkel, desto mehr Kraft benötigt der Muskel zum schließen…
z.B. Klimmzug, bei dem es am schwierigsten ist, die Streckung zu überwinden.
Dies hat beim Fangen noch eine entscheidende Konsequenz…

Um gut Fangen zu können, muss man den Flyer möglichst früh greifen. Dies führt allerdings zu schlechten Winkelverhältnissen im Moment des ersten Kontakts. Wenn dann die erwartete Kraftlinie falsch antizipiert wurde, oder der Flyer Scherkräfte erzeugt, ist das Fangen meist unmöglich. Der Base wird dabei wie ein Boxsack durch den Raum gekickt.

 

Quelle: Biomechanik_des_menschlichen_Bewegungsapparates_Biomechanik_im_Sport_Spitta_Verlag.pdf