„La Caminata“ bedeutet wörtlich übersetzt „die Bergwanderung“. Ein Grande Maestro aus Argentinien jedoch bekommt dabei leuchtende Augen und meint damit, wie ein Tangoschritt „richtig“ auszuführen ist. Der harte Schrittansatz der Ballroomtänzer (mit einem starken Staccato im Fußflick*) ist im Tango Argentino nicht sehr geschätzt. Der Schrittansatz sollte eher weich und der Gewichtstransfer der getanzten Emotion entsprechen. Da der Tango Argentino keine festen Schrittmuster vorgibt, ist auch der Rhythmus frei wählbar. Die Kunst des Tangos sehe ich darin, den Gewichtstransfer und die Pause vor dem nächsten Bewegungsimpuls musikalisch zu gestalten. In solchen Pausen malen Tanguer@s auch gerne vom Partner unabhängige Verzierungen mit den Füßen. Der Rhythmus und ein effizienter Schrittansatz haben bei mir immer den Vorrang, ansonsten empfinde ich eine Verzierung sehr schnell als unnötigen Schnörkel.
Vorwärts:
Erstaunlicherweise gibt es bezüglich der Fußtechnik im Vorwärtsschritt viele verschiedene Meinungen. Prinzipiell startet jede Bewegung zunächst aus dem Stand. Aber auch hier gibt es schon die unterschiedlichsten Philosophien… Ein Maestro ist der Meinung, dass die Auswärtsdrehung der Füße mit genau 11,7 Grad die einzig natürliche Position der Füße sei, egal wie umständlich der restliche Bewegungsapparat agieren muss. Ein weiterer Maestro ist der Meinung, dass nur parallel ausgerichtete Füße wirklich funktional sind. Nur eingedrehte Füße will wohl keiner, obwohl diese in vorwärts überkreuzten Schritten sehr wohl vorkommen…
Die Biomechanik fordert eine Belastung des gesamten Fußes, während das Gewicht darüber rollt. Also ist der Richtungsvektor des Gewichts entscheidend für die Position der Füße und der Richtungsvektor hängt vom ersten Impuls ab. Im übrigen wird die Auswärtsdrehung der Füße maßgeblich durch die Hüftposition bestimmt.
La Caminata startet also mit dem ersten Bewegungsimpuls, der den Körper in die gewünschte Richtung lehnen lässt, in der Vorwärtsbewegung also nach vorne. Dieser Impuls wird über die Ferse des Standbeins erzeugt.
Selbstversuch: Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der erste Impuls für die Vorwärtsbewegung aus der Fußspitze kommt. Wer es nicht glaubt, stelle sich mit dem Gesicht und den Zehenspitzen an die Wand. Und dann versuche, Dich auf die Zehenspitzen zu erheben. Wenn Du mit den Zehen an der Wand bleibst, wirst Du merken, dass Dich der Impuls nach hinten von der Wand weg drückt. Nun hebe die Zehen an und Du merkst, dass es Dich an die Wand drückt. Sprinter starten zwar auf den Zehen, aber nicht aus dem Stand. Sie sind bereits weit nach vorne gelehnt. Meistens stützen sie sich sogar mit den Händen ab!
Dem Impuls folgend, rollt der Schwerpunkt von der Ferse bis zur Zehe, wobei die Hüfte das Knie überholt. Sobald das Knie über die Fußspitze hinausragt, wird das freie Bein angesetzt. Die Biomechanik warnt: Eine Belastung der Knie außerhalb des Fußbereiches ist für diese nicht gesund! Die Belastung in der Bewegung wirkt allerdings nicht senkrecht, sondern schräg von vorne. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das Knie weit über den Fußbereich hinaus gelangt. Man stelle sich einen Sprungstab vor, der entlang seiner Achse gestaucht wird und gleichzeitig umkippt.
Der Schrittansatz bestimmt das Timing in der Musik, ob das Paar im Takt ist oder nicht. Ob der Schrittansatz mit Ferse oder Ballen erfolgt ist eher eine Frage der Dynamik. Ist eine fortlaufende rollende Bewegung gewünscht, wird die Ferse angesetzt. Soll die Energie reduziert werden, dann ist der Ansatz mit dem Ballen sinnvoll, da die Belastung des Fußes in Richtung Ferse verläuft und damit bremst. Die Ferse des Standbeins ist jedoch immer noch am Boden. Diese Position wird oft auch als Heel2Heel (Bild 1) bezeichnet.
Damit ist gewährleistet, dass sich das hintere Bein beim Verlassen strecken kann (Bild 2) und dabei eine lange Beinlinie erzeugt. Wenn sich die Ferse des Standbeins zu früh hebt, unterwandert das Knie die Hüfte (= Dynamikverlust) und es kommt zu Dackelbeinen. Manche Tanguer@s mögen diese weiche Fußführung und wissen die Nachteile der krummen Knie mit extra weiten Beinkleidern zu kaschieren.
Die Gewichtsverlagerung genügt mehreren Anforderungen… Der Oberkörper bleibt dem Partner zu gewendet, die gemeinsame Achse kippt nicht und das Gewicht bleibt (während der Gewichtsverlagerung) auf einer Ebene. Als Anfänger hatte ich immer das eindimensionale Gefühl, dass mir die Dame im Weg steht und ich ihr zwangsläufig auf die Füße trete. Als Fortgeschrittener war dann meine Wahrnehmung eher 2dimensional… Rechte Seite – rechter Fuß… linke Seite – linker Fuß. Der Tanz fühlte sich an, wie mit einem Panzer zu fahren. Irgendwann konnte ich Schwerpunkt, linke und rechte Seite meiner Partnerin unterscheiden und in mir entstand ein 3dimensionales Modell, in dem es Innen- und Aussenkreise gibt. Entsprechend veränderte sich auch die Klarheit meines Schrittansatzes und die Energie meiner Bewegung. Fortan war ich immer auf der Suche nach der Seele der Bewegung… was macht eine Bewegung faszinierend? Eine Antwort fand ich in der Interpretation der Musik. Was auf die eine Musik nicht passt, ist mit einer anderen plötzlich sensationell.
Aber auch die schönste Bewegung muss irgendwann mal enden… Sobald der Schwerpunkt auf dem vorderen Fuß angekommen ist und das Knie des früheren Standbeins sich lockert, endet der Schritt in einer offenen Position der Füße. Eine besonders ästhetische Endposition wird erreicht, wenn dieses Knie dabei seitlich hinter dem Knie des neuen Standbeins zur Ruhe kommt. Aus dieser offenen Endposition heraus kann in jede neue Richtung gestartet werden, ohne mit den Knien des Partners zu kollidieren. Durch die offene Position der Füße ist es auch möglich, eine Drehung in der eigenen Körperachse einzuleiten. Zu einer geschlossenen Position der Füße kommt es frühestens mit dem nächsten Impuls, im Falle eines Giros gegebenenfalls auch gar nicht…
Leider gibt es viele Anhänger der „Von-Geschlossen-zu-Geschlossen-Tanz-Theorie“, die ich jedoch noch nie bei einem Weltklasse-Paar gesehen habe. Das aktive Heranziehen des Fußes am Schritt-Ende stört die Balance und wird von der Partnerin oftmals als nächster Impuls interpretiert. Ein gehetztes Gefühl ist die Folge.
Rückwärts:
Die Rückwärtsbewegung ist ebenso facettenreich wie die Vorwärtsbewegung. Der erste Bewegungsimpuls entsteht konsequenterweise im Ballen des Standbeins. Die sichtbare Bewegung startet jedoch mit dem Fußflick des freien Beines (Bild 1), womit der Eindruck eines Fußabstreifens entsteht. Erst dann wird der Schwerpunkt über das Standbein von Ballen in Richtung Ferse gerollt. Besondere Aufmerksamkeit gebührt hier dem Knie, das beim Abdrücken vom Standbein nicht vor die Fußspitze kommen sollte. Durch die Gegenbewegung von Oberkörper und Hüfte öffnen sich die Beine wie eine Schere, es entsteht eine Toe2Toe-Position (Bild 2). Erst mit dem Verlagern des Gewichts hebt sich der Ballen des Standbeins und der Fuß rollt über die Ferse ab (Bild 3).
Für die Gewichtsverlagerung gilt das Gleiche wie in der Vorwärtsbewegung (siehe oben). Im Staccato der Musik ist die Versuchung groß, sehr schnell ins Knie des freien Beins zu senken. Dadurch entsteht eine fallende Bewegung, die im Oberkörper ausgeglichen werden muss. Ein Senken im Knie ist jedoch nur auf dem Standbein sinnvoll.
Der Schritt endet, wie auch der Vorwärtsschritt, in einer offenen Fußposition. Sobald die Ferse des freien Beins den Boden berührt (kissing the floor!), rutscht das Knie des vorigen Standbeins seitlich vor das neue Standbeinknie und ist von dort bereit für den nächsten Impuls. Im Falle einer nachfolgenden Vorwärtsbewegung kann die Trägheit des Fußes zu einem Schließen führen, sollte jedoch nicht aktiv erzeugt werden.
Seitwärts:
Auch eine häufig diskutierte Bewegungsrichtung, da sehr viele Paare daraus eine Vorwärtsbewegung gestalten. Dies sind vor allem Paare mit weit ausgedrehten Füßen, was in ihrem Fall sicher auch sinnvoll ist, um eine Swivelbewegung zu vermeiden. Manche Tanguer@s lieben die Swivelbewegung des Charleston, insbesondere in der Milonga. Ich persönlich finde, dass sie das Timing des Schrittansatzes verschleiern und damit die musikalisch klare Fußführung verloren geht.
Der Schwerpunkt im Stand kann zwischen den Beinen leicht verlagert werden. Damit entsteht der seitliche Bewegungsimpuls automatisch durch eine Gewichtsverlagerung auf das Standbein. Der entlastete Fuß des freien Beins löst sich leicht nach hinten, damit das Knie nicht nach vorne kommt und mit dem Knie des Partners kollidiert. Das Standbeinknie senkt und drückt sich seitlich ab. Der Schrittansatz erfolgt durch einen Fußflick zur Seite. Die eingeschränkte Beweglichkeit des Knies begrenzt die Schrittausdehnung, während der Gewichtstransfer von Innenkante zu Innenkante der Füße erfolgt. Der Schritt endet ebenfalls in einer offenen Position, indem zwar die Knie ohne Druck geschlossen werden, die Füße jedoch nicht ganz schließen. Das eigentliche Schließen erfolgt auch hier erst mit dem nächsten Bewegungsimpuls.
Es können sehr schöne musikalische Effekte erzielt werden, da die seitliche Bewegung einen schnellen Gewichtswechsel im Paar (z.B. Traspies) ermöglicht.
*Fußflick: Obwohl im Ballroom ein gängiger Begriff, habe ich ihn im Tango bislang noch nie gehört. Prinzipiell ist ein Flick eine Bewegung im unbelasteten Knie, wie er im Rock’n’Roll ständig vorkommt. Die schnelle Streckung setzt einen gewollten rhythmischen Akzent kurz vor dem eigentlichen Gewichtstransfer. Im Ballroom wird der Fußflick gerne auch gleichzeitig mit dem Gewichtstransfer getanzt, um entweder (z.B. Latin oder Ballroom Tango) dem Staccato der Musik mehr Intensität zu verleihen, oder den Bewegungsfluß (z.B. Slow-Fox) nicht zu bremsen.
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